Man sieht nur mit dem Herzen gut
Da war ein blühender Rosengarten.
“Guten Tag”, sagten die Rosen. Der kleine Prinz sah sie an. Sie glichen alle seiner Rose.
“Wer seid ihr?”, fragte er sie höchst erstaunt.
“Wir sind Rosen”, sagten die Rosen.
“Ach!” sagte der kleine Prinz.. Und er fühlte sich sehr unglücklich. Seine Blume hatte ihm erzählt, dass sie auf der Welt einzig in Ihrer Art sei. Und siehe! da waren fünftausend davon, alle gleich, in einem einzigen Garten!
Sie wäre sehr böse, wenn sie das sähe, sagte er sich.. sie würde fürchterlich husten und so tun als stürbe sie, um der Lächerlichkeit zu entgehen. Und ich müsste wohl so tun als pflegte ich sie, denn sonst ließe sie sich wirklich sterben, um auch mich zu beschämen. Ich glaubte ich wäre reich durch eine einzigartige Blume und ich besitze nur eine gewöhnliche Rose. Und er warf sich ins Gras und weinte.
In diesem Augenblick erschien ein Fuchs.
“Guten Tag” sagte der kleine Prinz als er sich umdrehte. “Wer bist du? Du bist sehr hübsch.”
“Ich bin ein Fuchs”, sagte der Fuchs.
“Komm und spiel mit mir”, schlug ihm der kleine Prinz vor. “Ich bin so traurig.”
“Ich kann nicht mit dir spielen”, sagte der Fuchs “Ich bin noch nicht gezähmt!”.
“Was bedeutet zähmen?”, fragte der kleine Prinz.
“Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache”, sagte der Fuchs. “Es bedeutet sich vertraut machen.
“Vertraut machen?”, fragte der kleine Prinz.
“Gewiss”, sagte der Fuchs. “Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht und du mich ebenso wenig. Ich bin für dich ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt.
“Ich beginne zu verstehen”, sagte der kleine Prinz. “Es gibt eine Blume.. ich glaube sie hat mich gezähmt.”
“Das ist möglich”, sagte der Fuchs. “Man trifft auf der Erde alle möglichen Dinge. Nichts ist vollkommen. Und alle Menschen gleichen einander. Aber, wenn du mich zähmst wird mein Leben wie durchsonnt sein. Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet. Die anderen Schritte jagen mich unter die Erde. Der deine wird mich wie Musik aus dem Bau locken. Und dann schau! Du siehst da drüben die Weizenfelder? Für mich ist Weizen zwecklos. Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh. es wird wunderbar sein, wenn du mich einmal gezähmt hast! Das Gold der Weizenfelder wird mich an dich erinnern und ich werde das Rauschen des Windes im Getreide lieb gewinnen. Bitte… zähme mich!”
“Ich möchte wohl”, antwortete der kleine Prinz, “aber ich habe nicht viel Zeit Ich muss Freunde finden und neue Dinge kennen lernen.”
“Man kennt nur die Dinge, die man zähmt”, sagte der Fuchs. “Die Menschen haben keine Zeit mehr Irgendetwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften” … Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!”.
“Was muss ich da tun?”, fragte der kleine Prinz.
“Du musst sehr geduldig sein, antwortete der Fuchs. “Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bisschen näher setzen können.
Und es muss feste Bräuche geben. Wenn du zum Beispiel immer um 4 Uhr kommst, kann ich um 3 Uhr anfangen glücklich zu sein. Je mehr die Zeit vergeht umso glücklicher werde ich mich fühlen. Um 4 Uhr werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren wie teuer das Glück ist. Wenn du also immer irgendwann kommst, kann ich nie wissen wann mein Herz bereit sein soll”.
“Was heißt Brauch?”, fragte der kleine Prinz.
“Auch etwas in Vergessenheit geratenes”, sagte der Fuchs. “Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von der anderen Stunde. Wären alle Tage gleich so hätte ich niemals Ferien”.
So machte der kleine Prinz den Fuchs mit sich vertaut. Und als die Stunde des Abschiedes nahe war:
“Ach!”, sagte der Fuchs. “Ich werde weinen.”
“Das ist deine Schuld”, sagte der kleine Prinz “Ich wünschte dir nichts Übles aber du hast gewollt, dass ich dich zähme!”.
“Gewiss”, sagte der Fuchs.
“Aber nun wirst du weinen!”, sagte der kleine Prinz.
“Bestimmt”, sagte der Fuchs.
“So hast du also nichts gewonnen?”, sagte der kleine Prinz.
“Ich habe”, sagte der Fuchs, “die Farbe des Weizens gewonnen.” Dann fügte er hinzu. “Geh die Rosen wieder anschauen. Du wirst begreifen, dass die deine einzig ist in der Welt. Du wirst wiederkommen und mir adieu sagen und ich werde dir ein Geheimnis schenken.”
Der kleine Prinz ging die Rosen wiederzusehen.
“Ihr gleicht meiner Rose gar nicht, ihr seid noch nichts”, sagte er zu ihnen. “Niemand hat sich mit euch vertraut gemacht. Ihr seid wie mein Fuchs war. Der war nichts als ein Fuchs wie hunderttausend andere. Ihr seid schön aber leer”, sagte er noch “Man kann für euch nicht sterben. Gewiss ein Irgendwer, der vorübergeht, könne glauben meine Rose ähnle euch.
Aber in sich selbst ist sie wichtiger als ihr alle, da sie es ist, die ich begossen habe.
Da sie es ist, die ich unter den Glassturz gestellt habe.
Da sie es ist, die ich mit dem Wandschirm geschützt habe.
Da sie es ist, die ich klagen oder sich rühmen gehört habe oder manchmal schweigen.
Da es meine Rose ist.
Und er kam zum Fuchs zurück.
“Adieu”, sagte er..
“Adieu”, sagte der Fuchs. “Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.”
“Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar”, wiederholte der kleine Prinz um es sich zu merken.
“Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.”
“Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe..”, sagte der kleine Prinz um es sich zu merken.
“Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen”, sagte der Fuchs “aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich..”
“Ich bin für meine Rose verantwortlich..”, wiederholte der kleine Prinz um es sich zu merken.
Quelle: Der kleine Prinz von Antoine De Saint-Exupèry